Ein besonderer Ort: Das CES Waldorf in Bogota

Düster, was mir Anemone am Vormittag über die Stimmung im Land erzählt hat. Wie alle Journalisten verwickle ich am Nachmittag meinen Taxifahrer ins Gespräch.  Wir haben Zeit, die Fahrt in die Außenbezirke Bogotas dauert lang. Anemone wollte mich erst gar nicht fahren lassen, das sei viel zu gefährlich, da gehe niemand hin. Aber Don José holt mich ab. „Ai,“ meint er, „letzten Endes bereichern sich alle am Konflikt Beteiligten auf Kosten der Armen. Nur ein Wunder kann Kolumbien helfen.“

An diesem Wunder arbeiten Laura und Berta mit ihrem Team.

Wir leben seit Jahrzehnten im Krieg. Angst und Misstrauen sind Teil unserer Identität in Kolumbien geworden. Im CES wollen wir einen Ort der Sicherheit, der Ruhe und des Vertrauens schaffen und so Menschen ermöglichen, sich und ihr Leben zu ändern.

Die beiden Schwestern erzählen, wie alles begann. Damals, Ende der 1990-er-Jahre, arbeiten beide für eine Obdachlosen-Organisation. Viele Familien sind vor den bewaffneten Konflikten vom Land in die Hauptstadt geflohen oder wurden vertrieben. Sie leben an einem Bahndamm und dort sollen sie wieder vertrieben werden.

Foto-desalojoMehrere Hilfsorganisationen engagieren sich und erreichen, dass 51 Familien Häuser bekommen in Sierra Morena de Ciudad Bolívar. Nachdem die Familien umgezogen sind, sehen die Organisationen ihre Aufgabe als erfüllt und ziehen sich zurück.

Nicht so Berta und Laura – für sie fängt die Arbeit erst an. 

„Die Menschen mussten lernen, wie man einen Schlüssel benutzt und dass ein Wasserhahn kein Brunnen ist, den man laufen lässt.“ erzählt Berta. „Viele Eltern waren so traumatisiert, dass sie ihre Kinder nicht unterstützen konnten auf dem Weg in ein körperlich und psychisch gesundes Leben.“

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Berta und Laura gründen einen Kindergarten und ihre eigene Organisation, die Corporation Educativa y Social Waldorf.  Heute besuchen 66 Kinder den Kindergarten – heimelige Räume mit viel Holz und warmen Farben zeigt mir Laura. Und dann wird sie selbst zum Kind, als sie schmunzelnd einen Vorhang öffnet und die dahinter versteckte Tür. Das, meint sie, sei das magische Zimmer, das Zwergenhaus. Und in der Tat, es ist ein Raum zum Träumen, Spielen, Kind sein: ein winziger, überdachter Innenhof mit einem kleinen Sandkasten, einem zweistöckigen hölzernen Spielhaus mit Kuschelecke zum Reinkrabbeln und einem Puppenhaus.

Sehr viel Wärme und Geborgenheit strahlt das alles aus, und das ist wichtig, bestätigen Laura und Berta, denn davon gibt es hier, in einem der ärmsten Viertel Bogotas, wenig. Jedes Kind wird hier mit Handschlag begrüßt und verabschiedet, so spüren die Erzieherinnen, ob das Kind warme oder kalte Hände hat, ob es aufgeregt ist oder ruhig. Die Gruppen sind altersgemischt, die Größeren übernehmen Verantwortung für die Kleinen und helfen ihnen beim Anziehen und essen. Ach ja, das Essen – es wird vor Ort frisch gekocht und die Kinder helfen mit, schneiden Obst und Gemüse und entwickeln so eine Beziehung zu gesunder Ernährung.

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Wir drehen eine Runde durchs Haus und stören die Schulkinder in ihren Tailleres, ihren Werkstätten. Das CES ist keine Schule, aber auch die Schulkinder werden hier weiter begleitet. Die, die am Vormittag in die Schule gehen, kommen nach dem Mittagessen her und werden bei den Hausaufgaben unterstützt. Dann arbeiten sie, wieder in altersgemischten Gruppen, in Kreativwerkstätten. In guter Waldorftradition arbeitet eine Gruppe eine Epoche (in diesem Fall ca. 5 Wochen) lang an einem kreativen Projekt. Am Ende jeder Epoche steht die Aufführung, dann geht’s für die Gruppe weiter in die nächste Werkstatt. Die Kinder, die nachmittags in die Schule gehen, kommen am Vormittag zum selben Programm – insgesamt 150 Kinder und Jugendliche.

20170515_222600Körper, Stimme und Vorstellungskraft, das trainieren die Kinder beim Theaterspielen, sagt der Theaterlehrer. Und Selbstwahrnehmung und Selbstbewusstsein, ergänzt er noch. Und dann geht die Probe der 11 – 13-Jährigen weiter, „Hier ist das Publikum!“ ruft er, „mich musst du erreichen mit deinem Text!“

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Die 8 – 10-Jährigen höre ich schon im Treppenhaus, hier wird geflötet. Gut für die Disziplin, das Wahrnehmen der anderen und das „Den-eigenen-Ton-Finden“, meint die Musiklehrerin.

20170515_221154Nebenan wird gewebt, jedes Kind darf die Farben verwenden, die es mag. „Ich mach ein Stiftemäppchen!“ ruft ein Mädchen, „Ich einen Schal!“ ein anderes. Hier erleben die Kinder, sich Ziele zu setzen, etwas fertig zu stellen in der vorgegebenen Zeit – und dass man nicht viel Geld braucht, weil man schöne Dinge auch selbst herstellen kann.

20170515_221751Im nächsten Raum werde ich mit einer Umarmung begrüßt – und einem Chor. In der Kunstwerkstatt arbeiten gerade die Jüngsten, sie gestalten Bilderbücher zu einem Gedicht, das sie mir stolz vortragen.

20170515_223913Die ganz Großen, die 13 – 15 – Jährigen, sind zur Zeit in der „Buchstaben-und-Zahlen-Werkstatt“. Ihr Epochenprojekt: Die Produktion einer Radiosendung! „Was ist gut bei uns im Viertel?“ ist das Thema. Die Jugendlichen haben den Betreiber des örtlichen Kinos interviewt, von dessen Existenz sie vorher gar nichts wussten. Jetzt suchen sie Musik aus, basteln am Computer Jingles und schneiden ihre Interviews.

„Das alles hier ist Teamwork“ sagt Laura. Fünf Erzieherinnen, drei Sozialarbeiter, ein Psychologe, eine Ärztin und sieben ausgebildete Waldorfpädagogen betreuen täglich die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen.

Die Begleitung der Kinder ist eingebettet in aufsuchende Sozialarbeit. Denn, so betont Berta, hier wird nicht das Kind aufgenommen, sondern die Familie. Und so gibt es inzwischen auch Rechtsberatung, medizinische Betreuung und Erwachsenenbildung. 15.000 Pesos, rund 5 Euro kostet die Familie ein Platz für ein Kind im Monat, bei zwei oder mehr Kindern zahlt die Familie 20.000 Pesos, knapp sieben Euro. Wer das nicht aufbringen kann, kann mithelfen und so seinen Beitrag leisten. Und wenn die Eltern weder zahlen noch helfen? Dann, sagt Laura, sprechen wir mit der Familie und versuchen gemeinsam herauszufinden, warum sie es nicht kann und wie wir sie unterstützen können.

Der Kindergarten wird größtenteils aus öffentlichen Mitteln finanziert, der Rest der Arbeit durch Spenden, unter anderem von dem Geld, das Waldorfschülerinnen und -schüler in Europa beim WOW-Day (Waldorf-One-World) erwirtschaften. Helmut von Loebel, Österreicher und Gründer des CES knüpft Netzwerke in Europa, aber auch zu deutschen Unternehmen in Kolumbien, die die Arbeit finanziell unterstützen. Patenschaften und Freiwillige wie Verena aus Freiburg, die ein Jahr lang hier mithilft vermitteln die Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners.

20170516_000152„Danke, dass du gekommen bist!“ Berta und Laura umarmen mich zum Abschied und steigen in einen klapprigen alten R4. „Der bleibt öfter mal liegen,“ lacht Verena, „aber zum Glück haben wir ihn bis jetzt immer wieder hingekriegt.“

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