Casa de la memoria Medellin

 

Es gibt nicht eine Wahrheit. Es gibt keine komplette Wahrheit. Jeder erzählt aus seinem Blickwinkel von seinen Erlebnissen. Und dadurch, dass sie sich begegnen, verändern sich die Geschichten, werden reicher, vervollständigen sich.

So begrüßt die „Casa de la memoria„, das Haus der Erinnerungen in Medellin. Medellin, die einstmals angeblich gefährlichste Stadt der Welt, Heimat des Medelin-Kartells unter Pablo Escobar, Ort von Gewalt und Kriminalität. Es ist ein ungewöhnliches Museum. Es präsentiert Quellen, Kunstinstallationen und Zeitzeugenberichte, Materialien, aus denen ein Gesamtbild entsteht, aber es erklärt nicht, belehrt nicht, deutet nicht, wertet nicht.

Hier gibt es viel stylischere Bilder aus der Dauerausstellung als meine.

An einer Wand eine lange Zeitleiste. Durch Berühren öffnen sich immer neue Vertiefungsebenen, Zeitungsartikel, Fotos, Dokumente, ein umfassendes Archiv, in dem man stundenlang stöbern könnte.

In der Mitte des Raums horizontale Kästen mit Installationen zu verschiedenen Themen.

Die linke Partei „Union Patriotica“ wurde von Regierung, Paramilitärs und den Narcos bekämpft. Zwei Präsidentschaftskandidaten, acht Kongressabgeordnete, elf Bürgermeister und tausende Anhänger wurden ermordet, die Partei quasi ausgelöscht. An sie erinnert diese Vitrine mit vielen Namen.

Die Menschenrechte sind fast davongeflogen aus Medellin in den Zeiten des Kriegs.

img_8969Schere – Stein – Papier mal anders. Wenn die Schere Korruption das Papier Wahlen zerschneidet, bleibt eine verwundete Demokratie. Wenn aber das Papier Wahlen den Stein „integere Politik“ umwickelt, wird die Demokratie gestärkt und kann so die Schere Korruption zerbrechen.

Phantasievoll und kreativ sind die Installationen. An die verfolgten und ermordeten Journalistinnen und Journalisten erinnert ein Turm aus Bleistiften, welche Gewalt auch die Natur erlebt, zeigt ein Setzkasten und die einsame Palme in der Wüste steht für die vielen Exilanten.

In einem Kasten liegt ein idyllisches Bild aus Sand: Mama, Papa, zwei Kinder, ein Haus, Berge, Baum, Himmel. Doch dann erscheinen Hände aus der Tiefe, Hände, die das Haus zerstören, die Konturen der Familienmitglieder verwischen, die verbliebenen vier Sandhäufchen hierhin und dorthin verschieben, bis sie schließlich an verschiedenen Stellen aus dem Bild verschwinden.

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Über sechs Millionen Binnenflüchtlinge leben in Kolumbien, mehr als 15 % der Gesamtbevölkerung. Mehr Menschen sind nur noch in Syrien aus ihren Häusern vertrieben worden und im Land auf der Flucht, stellt das „Internal Displacement Monitoring Centre“ fest.

An die Frauen erinnert ein Stück Stoff, das immer mehr zerrissen wird, mit jeder häuslichen Gewalt, jeder erzwungenen Abtreibung oder Schwangerschaft, jedem ermordeten Kind oder Ehemann. Doch die Frauen, so erzählt diese Vitrine, sind in der Lage, diese Risse in Leben und Stoff zu flicken.

In der Casa de la memoria tun viele Frauen das im Wortsinn. In Workshops sticken sie ihre Geschichten als Wandbilder, gestalten Erinnerungen und Träume in Textil.

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Im hinteren Teil der Ausstellung stellen sich mir Menschen in den Weg, lebensgroße Bildschirme. Jeder ist gefüllt mit unzähligen Geschichten, ich kann mir aussuchen, wer mir seine erzählt.

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Aber die Geschichten stecken nicht nur in den Videos. Eine Frau, Mitarbeiterin der Casa, spricht uns an. Sie zeigt uns die Exponate der Wechselausstellung, erklärt, erzählt, lässt nicht locker, obwohl wir eigentlich schon längst los müssen. Als ich später nach Materialien zur Casa de la memoria im Netz suche, entdecke ich sie wieder. Sieben Monate lang hat sie ihren Sohn in Krankenhäusern gesucht, bis der Anruf kam: Die Armee hat ihn erschossen. Heute ist ihr Arbeitsplatz, die Casa de la memoria, ein Ort der Ruhe und des Friedens für sie, von dem sie niemand mehr wegbringt, sagt sie. Hier ist ihre Geschichte.

 

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